Tientsin
Ort und Orientteppichprovenienz in der VR China
Die nordchinesische Stadt Tientsin, oder Chinesisch Tianjin, liegt etwa hundertdreissig Kilometer südlich von Peking, sechzig Kilometer landeinwärts am Heihfluss, der in den Golf von Chilih (Beijing) am Gelben Meer mündet. 1858 wurde hier der den 2. Opiumkrieg, auch bekannt als Boxeraufstand, beendende Tientsin-Vertrag geschlossen. Mit ihm erzwangen sich ausländischen Firmen den zollfreien Zugang zum chinesischen Markt, was auch die Entwicklung chinesischer Knüpfteppiche nachhaltig beeinflusste. Durch seinen hohen Anteil an ausländischen Firmen galt Tientsin lange Zeit als eine Art Shanghai des Nordens, eine Stellung, die es langsam wieder zurückzuerobern scheint.
Seit nunmehr gut achtzig Jahren ist Tientsin eines der bedeutendsten Teppichknüpfzentren in der VR China. Mit dieser Stadt und der dortigen Knüpfindustrie, speziell den in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts gegründeten Teppichmanufakturen, ist der Name des Amerikaners, W.A.B. Nichols, eng verbunden. Jahrzehnte lang betrieb er in China zeitweise bis zu 14 Teppichmanufakturen, die meisten davon in Tientsin. Ihre handgeknüpfte Produktion wurde überwiegend in den USA von der dortigen Importfirma Pande-Cameron vertrieben. Viele der heute in Deutschland so begehrten China-Altknüpfungen stammen ursprünglich aus den Nicols-Produktionen. Andere bekannte Produzenten dieser Zeit waren die Firmen von Elbrook und Karaghüssian. Letzterer auch bekannt als Importeur der sog. „Amerikanischen Saroughs“. Hier wirkten damals Designer, wie beispielsweise das Ehepaar Helen und Franklin Fette, deren von Chinadessinentwürfe in erster Linie auf den Geschmack der US-amerikanischen Verbraucher ausgerichtet waren.
Aus dieser aufstrebenden Stadt mit ihrem fünfzig Kilometer flussabwärts gelegenen Tiefwasserhafen Tung‘gu, kamen einst die meisten Knüpfteppiche. Überwiegend in chinesischen Stilrichtungen mit 5/8“ (16 mm) Schurhöhe, aber auch Savonnerie-Dessins und eine dem europäischen Rokoko nachempfundene Stilrichtung, die im Handel als Ästhetiks bezeichnet wird. Bei den einfarbigen Ton-in-Ton-Teppichen werden die barocken Reliefmuster mittels Clipping in den Flor eingeschnitten.
1976 wurden Tientsin und Umgebung durch ein starkes Erdbeben verwüstet, das großes menschliches Leid verursachte, aber auch die Knüpfindustrie jahrelang erheblich einschränkte.
Seit Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts werden in Tientsin vornehmlich Handtuftteppiche hergestellt. Ebenfalls ausschließlich Produktionen für den Export in die westlichen Hemisphären. Traditionell werden die Muster und Farbstellungen von Designern und Kunden vorgegeben. Der Export ist auch der eigentliche Grund, weshalb man die Knüpfereien praktischerweise gleich in Tientsin, also in unmittelbarer Nähe eines Seehafens errichtete.
(Abb.: Fushilong Royal)